Freitag, 9. Juni 2017

Zur Dichte in vier Schritten - Versuch einer Anleitung zur dichten Beschreibung

Es gibt keine Anleitung zum Abfassen dichter Beschreibungen – alter Hut. Im Zuge meiner monatelangen Suchbewegung, die sich in zwei Werkstattbeiträgen auf diesem Blog niedergeschlagen hat (siehe hier und hier), habe ich nun ein erstes Grundgerüst dazu erstellt, das ich im Folgenden vorstellen möchte. Es handelt sich um ein vierschrittiges Verfahren, durch das „dichte“ Texte, d.h. in der Zusammentragung „bedeutungsvoller Strukturen“ (Geertz 1987, 12) dichte Texte produziert werden. Folgendes Schaubild erfasst die einzelnen Schritte und ihren Zusammenhang:

Vom Feld zum Text - In vier Schritten zur dichten Beschreibung, eigene Darstellung

Schritt I – Feldbeobachtung: Der Weg zur dichten Beschreibung beginnt wohl unweigerlich im Feld, auch wenn theoretische Vorüberlegungen sowie zur Kenntnis genommene Forschungsliteratur für das Abfassen und auch darüber hinaus sicher eine wichtige Rolle haben. Die Feldbeobachtung wird in schriftlichen und mentalen (Kurz-)Notizen (vgl. Knoblauch 2003, 91f.) festgehalten, die zunächst unsystematisch sind und sich je nach Fortschritt der Untersuchung an bestimmten klar oder weniger klar umrissenen Fragestellungen bzw. einem gewählten Fokus orientieren. In jedem Fall sollten die Notizen eine Rekonstruktion des Ablaufs des beobachteten Ereignisses zulassen.

Schritt II – Feldnotiz: Mit frischem Eindruck des Geschehens, das heißt möglichst zeitnah danach, werden die Notizen in eine ausführlichere Feldnotiz überführt. Hierfür greife ich häufig auf die von Knoblauch (2003, 92ff.) vorgeschlagene Dreiteilung in Deskription, analytische Memos und persönliche Notizen zurück. Die Deskription ist dem Handlungsablauf sowie aller beobachteten Details gewidmet. In den analytischen Memos werden Ideen zur Struktur des Feldes und relevanten systematischen Bezügen festgehalten. Hier werden die Aspekte festgehalten, die etwas über die subjektive Wahrnehmung der Beobachterin bzw. des Beobachters aussagen (eigene Rolle, Gefühle, Reaktionen auf das Feld etc.). Je nach Feldbestimmung (von „Kultur“ bis Einzelinteraktion) und Forschungsdesign (von jahrelanger Beobachtung bis zur Beobachtung eines einzelnen und einmaligen Events) kommt eine unterschiedlich große Menge an Feldnotizen zusammen.

Schritt III – „enge“ dichte Beschreibung: Aus einer oder vielen Feldnotizen geht schließlich die erste dichte Beschreibung zu einem Fall hervor. Ich unterscheide dabei zwischen „engen“ und „weiten“ dichten Beschreibungen, wobei die „enge“ der „weiten“ Beschreibung vorausgehen muss. Eng ist die entstehende dichte Beschreibung insofern, als dass sie bewusst die Eigenwahrnehmung der Beobachterin bzw. des Beobachters ins Zentrum stellt und darüber hinausgehende Perspektiven zunächst (weitestgehend) ausklammert. Die vorhandenen Feldnotizen werden aufgebrochen und in eine neue Textstruktur überführt, die sich (in der Regel?) am Ablauf des Ereignisses orientiert. Wichtigster Unterschied zum ursprünglichen Format der Feldnotizen ist, dass die dichte Beschreibung für eine (noch imaginierte) Leserschaft formuliert wird. D.h. es handelt sich um einen präsentierenden Text, in dem die einzelnen Bestandteile der Feldnotizen (deskriptive, analytische und persönliche Notizen) zu einer schlüssigen Gesamtkomposition arrangiert werden, die eine Art Erfahrungsbericht des Autors bzw. der Autorin darstellt, wobei zentrale Aspekte zur pointierten Veranschaulichung überzeichnet sein können (Stichwort: Konstruktion des Gegenstandes, vgl. hierzu Geertz 1987, 23 und auch Goffman 1980, 24). Neben den rekapitulierten Elementen der ursprünglichen Feldnotizen soll hier zudem Faktenwissen (Hintergründe des Ereignisse, wie etwa die Geschichte oder die Häufigkeit) das Bild abrunden. Die bewusste Fokussierung auf die Eigenwahrnehmung in einem eigens dafür vorgesehenen Schritt ist notwendig. So soll dies dem/der Forscher*in helfen, die eigene persönliche Perspektive, d.h. die subjektiv geprägten interpretativen Anteile der Beschreibung offenzulegen und zu reflektieren.

Schritt IV – „weite“ dichte Beschreibung: Die nun neu gegossenen engen dichten Beschreibungen müssen in einem letzten Schritt erneut aufgebrochen werden. Nachdem das Ereignis nun im Lichte der engen Perspektive erarbeitet worden ist, erfolgt die Erweiterung auf andere Perspektiven und theoretisch grundierte Deutungsebenen. Hierzu werden (a) Analyseergebnisse weiterer auf den Fall bezogener Erhebungen einbezogen. Hierzu gehören u.a. Ergebnisse aus Befragungen, Interviews mit Leitungen und Teilnehmenden sowie ggf. Selbstbeschreibungen (z.B. online oder anderen eigenen Publikationen), sofern diese nicht schon als Faktenwissen in die engen dichten Beschreibungen eingeflossen sind. Weiteres Material, sofern es der Sache dienlich ist, kann hinzugezogen werden (vgl. zur Weite möglichen Materials Goffman 1980, 23ff.). Daneben spielen (b) für die weite dichte Beschreibung passend gewählte theoretische Bezüge eine Rolle. So werden die mehrperspektivischen Interpretationen des Ereignisses unter Rückgriff theoretisch gefüllter Begriffe und vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellung(en) in Beziehung gesetzt. Auch hier wird eine Geschichte „konstruiert“, der Gegenstand „gemacht“. Der so neu entstehende „zusammengewobene“ Text ist derjenige, der sich schließlich als Präsentation des Analyseergebnisses, d.h. als fertige dichte Beschreibung in die wissenschaftliche Publikation einfügt.

Das hier in ersten Grundzügen vorgestellte Verfahren soll (mir) zum einen als Richtschnur für die Textproduktion dienen und zum anderen die Entstehungsgeschichte der Beschreibungen transparent machen.



Literatur:

Geertz, Clifford (1987) „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur.“ In: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 7-43.

Goffman, Erving (1980) Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhkamp Verlag.

Knoblauch, Hubert (2003) Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft. Paderborn u.a.: Verlag Ferdinand Schöningh.

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