Montag, 3. April 2017

Unter Materialisten – Impulse vom AKMN-Workshop in Leipzig

Titelfolie meines Inputs
Ein (nicht mehr sooo) junger Mann mit (gelinde gesagt) schütterem Haar und leichtem Bauchansatz spricht weinerlich über seine Schreibprobleme. Oder: Ein dynamischer Wissenschaftler trägt leidenschaftlich seinen methodischen Ansatz vor und verweist geistreich und mit Witz auf die trügerischen Stolpersteine beim Abfassen dichter Beschreibungen. Ich kann nicht sagen, wie mein kleiner Input auf dem diesjährigen Methodenworkshop des AKMN (Leipzig, 30./31.03.2017), bei den Zuhörenden tatsächlich angekommen ist. Die zweite Deutung, so oder so ähnlich, spiegelt natürlich mein Idealbild. Vermutlich (oder sollte ich schreiben „hoffentlich“?) liegt die Realität irgendwo zwischen beidem.
Wahrnehmung und wie sie methodisch greifbar und generalisierbar wird, d.h. der Sprung vom Subjektiven zum Intersubjektiven (Stichwort: ForscherIn als Instrument), war einer von mehreren roten Fäden, die sich durch den insgesamt sehr entspannten und angeregten Workshop zur Materialität von Religion schlängelten. Dabei waren die Vorträge selbst, dank eines Smartboards, auffallend materiell strukturiert – von elegant streichend, über selbstsicher aneignend bis hin zu „Gefangenen des Zooms“. Inwiefern der Einsatz „smarter“ Technik Vortragskultur verändert, wäre hier eine spannende Fragestellung, die tief in den Bereich des Materiellen hineingreift. Leider hat das nichts mit Religion zu tun (soviel ich weiß).
Das Smartboard jedenfalls diente uns als Tor zur Welt. Wir folgten Ku, dem Kriegsgott ehrfürchtig von Hawaii nach Göttingen, zählten Dachreiter chinesischer Tempel in Sichuan, fielen (absichtlich nicht) in Trance während eines alevitischen semah, reisten unter Schlafmangel mit neun Schlangenschwestern durch die indische Provinz und besuchten ein beschauliches Bergdorf in der Schweiz, das sich selbst Disney nicht hätte besser ausmalen können. Der AKMN-Methodenworkshop in Leipzig war wie eine lehrreiche Traumreise.
Was habe ich gelernt? Nun, es gibt eine Reihe von sehr hilfreichen Anregungen, die ich für die Diss. mitgenommen habe. Drei davon möchte ich hier kurz zusammentragen:

Theoretischer Einzugsbereich

Eine der von der Workshop-Leitung vorgegebenen Vergleichsfragen zielte auf die Identifikation des materiellen Gegenstands. In meinem Fall betrifft das u.a. „Gebäude“ und „Räume/Orte“, „Objekte“, „Körper“, „Interaktion/Performanz“ und so etwas wie „Atmosphäre“ bzw. „sinnliche Wahrnehmung des Raums/der Situation“. An diese Konzepte schließen sich eine ganze Reihe theoretischer Perspektiven an, die in ihrer Fülle (so meine ich jetzt) nicht von einer einzigen Arbeit getragen werden können.
Bestärkt fühle ich mich darin, meine interaktionstheoretische Basis (Goffman) beizubehalten und diese durch Anleihen aus den unterschiedlichen Ansätzen anzureichern. Diese sollen vor allem aus der Raumtheorie sowie aus der Religionsästhetik/material culture kommen.

Sprung ins Intersubjektive

Mein dringlichstes Anliegen auf diesem Workshop war es, meine Befürchtungen eines zu starken Subjektivismus (der, so verstehe ich Geertz, zu einem gewissen Grad angelegt ist) in meiner Arbeit zum Ausdruck zu bringen und Anregungen für eine „Eindämmung“ zu bekommen. Hier sehe ich jetzt klarer.
Wenn eine gute Analyse wie ein gut gespanntes Sonnensegel ist, dann flackert meines (mit der Aufschrift „dichte Beschreibung“) zunächst fröhlich im Frühlingswind herum. Vier Anker, mit denen es festgezurrt werden soll und dann stabil hängt, konnte ich nun dank vieler guter Hinweise ausmachen und etwas näher bestimmen:

Anker 1 – Selbstreflexion: Die ist ja ohnehin immer geboten und soll durch analytische und persönliche Memos (Knoblauch), durch periodisch angelegte Selbstbeschau (feste Termine mit dem einzigen Ziel, sich selbst in Frage zu stellen?) sowie kritische Lektüre der eigenen Produktionen gewährleistet werden. Die Selbstreflexion allein schützt jedoch nicht vor blinden Flecken, Selbstgefallen und übertriebener Selbstkritik.

Anker 2 – Methodenpluralismus: Aus diesem Grund wird bei der Erhebung ein methodenpluralistischer Ansatz verfolgt, mit dem die subjektiven und intersubjektiven Anteile stärker in Beziehung gesetzt werden können.

Anker 3 – Analysewerkstätten: Auch für die Analyse ist ein pluralistischer Ansatz geboten. Ein wichtiger Hinweis war hier die übliche Praxis sozialwissenschaftlicher Analysewerkstätten, in denen das Datenmaterial mit vielen Augen und aus deutlich mehr Perspektiven durchleuchtet werden kann.

Anker 4 – Feldspiegelung: Schließlich kann für die Analyse und auch das tatsächliche Textergebnis eine Rückkopplung ans Feld sinnvoll sein. Was denken diejenigen, über die ich schreibe, über meinen Text? Hier liegen womöglich die größten Überraschungen (bei vollem Bewusstsein für den verständlichen Wunsch nach positivistischer Selbstdarstellung).

Dichte Beschreibung als Bricolage und das Verhältnis zum systematischen Fallvergleich

Ich denke, ich konnte in meinem Input deutlich machen, dass die dichte Beschreibung eine sehr nützliche Analysemethode sein kann. Auch als Darstellungsform hat sie einigen Zuspruch erhalten. Hier erhielt ich den Hinweis, dass ein Radiofeature eine passable Vorlage für das Zusammenspiel verschiedener Deutungsschichten (Bricolage aus Erzählergedanken, O-Ton, Stimmen aus dem Feld…) sein könnte. Dies würde für die dichten Beschreibungen beispielsweise bedeuten Selbstbeschreibungen, Feldnotizen und auch Interviewmaterial noch etwas stärker mit einzubeziehen.

Über zwei Anregungen muss ich noch etwas nachdenken. Eine war, dass es doch vielleicht gut wäre, erst den systematischen Fallvergleich anzugehen und in der Arbeit zu präsentieren und erst im Anschluss – d.h. vor dem Hintergrund der durch die theoretisch sensibilisierte Analyse aufgedeckte Systematik – dichte Beschreibungen zu den Fällen zu erstellen. Hier hatte ich spontan die Befürchtung, dass dann im Anschluss durch eine zu starke theoretische Routine das offene Moment der dichten Beschreibung verloren geht.
Eine andere Stimme erhob den Einwand, dass Geertz möglicherweise ein großes Problem damit hätte, dichte Beschreibungen neben einem systematischeren Analyseansatz in einer Arbeit stehen zu sehen. Darüber denke ich seit zwei Zugfahrten nach. Es könnte sein. Andererseits betont Geertz auch die grundsätzliche Unabgeschlossenheit seiner Beschreibungen, die immer als Produkt des Autors zu verstehen sind. Stephan Wolff ergänzt, dass Geertz mit seinen Beschreibungen eigentlich mehr Fragen produziere als Antworten anbiete, d.h. er verbreitert durch dichte Beschreibungen das Problemfeld, anstatt Komplexität zu reduzieren. Vielleicht lässt sich das so zusammenbringen: In den dichten Beschreibungen öffne ich meinen LeserInnen unter Maßgabe meines Fokus (Wechselwirkung von Raum und Dialoghandeln) das Feld und biete eine Schichtung „bedeutungsvoller Strukturen“ an. Diese Gebilde sollen sowohl das Feld zugänglich, als auch Möglichkeiten der Verbindung von Raum und Religionsdialog „spürbar“ machen. Gleichzeitig sind sie jedoch so offen (Stichwort unabgeschlossen), dass mehrere Interpretationsmöglichkeiten (auch: Lesarten) bestehen. Der systematische Fallvergleich, den ich an die dichten Beschreibungen anschließen möchte, fängt die weite (auch assoziative) Öffnung des Feldes wieder ein und kondensiert sich zu meiner konkreten Lesart. Die Spannung zwischen beiden Ansätzen scheint im Kern darin zu liegen, dass Ansatz a) mit seinem relativistischen Ansatz das Vorhandensein „einer einzigen“ Lesart ablehnt, während Ansatz b) eine methodisch kontrollierte Systematik (d.h. „eine“ Lesart) anbietet. Aber ist das ein Argument gegen oder für dieses Arrangement?

Fazit
Insgesamt ein ertragreicher und unterhaltsamer Workshop. Nur Fotos hat wieder keine(r) gemacht.

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